In conversation with Dr. Lindemann, Dir. Gemäldegalerie

Prof. Dr. Bernd Lindemann im Gespräch mit Mark Alexander

BL: Als ich Sie in Ihrem Atelier besuchte, war mein erster Eindruck Ihres Werks nicht der eines Gemäldes, sondern einer dreidimensionalen Arbeit aus Metall.

MA: Ja, ich habe an diesem Bild sehr lange gearbeitet – insgesamt um die 16 Jahre – und um diesen Effekt habe ich mich sehr bemüht. Trompe-l’oeil interessiert mich nicht wirklich, aber ich mag Illusionen und Täuschungen. Ich denke, dass in dem Maße, wie die virtuelle Realität immer mehr Teil unseres Lebens wird, die tatsächliche Welt uns immer weniger vertraut erscheint. Ich wollte eine Illusion einfangen. Meine Absicht war es, eine Art modernes Altarbild über den Glauben zu schaffen. Deshalb bin ich froh, dass Sie dachten, es sei ein Objekt… es funktioniert! Und natürlich sollte es auch aussehen wie Gold, ebenso wichtig. Hat es auf Sie so gewirkt?

BL: Ja sicher. Es könnte eine gute Idee sein, das Werk im Schloss Versailles auszustellen, weil es ein bisschen an das Symbol Ludwigs XIV. erinnert, der ja der „Sonnenkönig“ genannt wurde.

MA: Das war tatsächlich meine allererste Anregung für das Bild. Als ich bei Ihnen angefragt habe, ob es in der Gemäldegalerie gezeigt werden kann, habe ich zwar geschrieben, dass mich das Rembrandt- Gemälde Jakob kämpft mit dem Engel inspiriert habe. Aber eigentlich war der erste Impuls eine Darstellung von Ludwig XIV. als Sonnenkönig. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, schlug ich ein Buch über ihn aus dem Regal meiner Eltern auf und sah auf dem Innentitel diesen Kupferstich. Und ich war erschüttert darüber, wie unglücklich er wirkte. Alles zu besitzen und immer noch so unglücklich zu sein. Das war der allererste Anstoß. Und als ich dann hierherkam und den Rembrandt sah, kombinierte ich sozusagen beide Ansätze miteinander. Aber der allererste Impuls kam vom Sonnenkönig. Sehr gerne würde ich das Werk in Versailles zeigen, das wäre perfekt.

BL: Manchmal machen sie so etwas. Vor einigen Jahren wurden auch Werke von Jeff Koons in den Räumen von Schloss Versailles gezeigt.

MA: Das stimmt. Aber es gibt schon so viel Gold in Versailles. Ich bin nicht sicher, ob mein Gold damit konkurrieren kann. Es wäre eine interessante Herausforderung.

BL: Für den französischen König war die Sonne das Symbol der Gerechtigkeit, weil sie für jeden gleich scheint. Die Sonne war für ihn also das Zeichen eines guten Königs, ein guter König soll wie die Sonne sein: sie gibt allen Menschen Licht.

MA: Ich glaube, meine Sonne hat eine etwas andere Bedeutung. Sie war mehr ein Versuch, den Gedanken darzustellen, dass vielleicht eher die Menschen den Mittelpunkt des Universums bilden als Gott. Darüber habe ich nachgedacht. Und das Bild in der Mitte des Gemäldes bin tatsächlich ich als Kind.

BL: Es ist ein Selbstportrait?

MA: Eine Art Selbstportrait. Das Gesicht basiert auf einem alten Foto, das mich mit ungefähr 18 Monaten zeigt und auf dem ich ziemlich verblüfft aussehe. Wenn wir klein sind, sind wir überzeugt davon, der Mittelpunkt des Universums zu sein. Und langsam müssen wir dann begreifen, dass wir es doch nicht sind. Auch das ist eine Parallele zur Religion, nämlich zum Motiv des Sündenfalls. Nach der Vertreibung aus dem Paradies mussten die Menschen in einer anderen Welt zurechtkommen. Weltlich gesehen: Je erwachsener wir werden, desto mehr wird uns bewusst, dass die Welt in Wahrheit ziemlich schwierig ist. Die Sonne bedeutet für mich also weniger Gerechtigkeit, vielmehr den Sturz in das Erwachsensein, den Moment, wenn wir in einer immer komplexeren und virtuelleren Welt auf uns selbst gestellt sind. Und in der Fortsetzung wohl auch die Befürchtung, irgendwann in einer Welt zu leben, in der Menschen überhaupt nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Ich wollte etwas schaffen, das diese Gedanken ausdrückt und ihnen gerecht wird, die Illusion und die Ernüchterung.

BL: Und die Idee für den Rahmen? Entstand die bei Besuchen der Gemäldegalerie? Denn wir haben ja einige ähnlich gestaltete italienische Gemälde.

MA: Aus verschiedenen Gründen habe ich mich immer schon für Bilderrahmen interessiert. Was zeitgenössische Künstler machen, halte ich eigentlich nicht für Kunst. Es wird erst Kunst, wenn es Teil des Kanons wird. (Was ein viel langwieriger Prozess ist.) Das heißt für mich, der Rahmen ist ein wenig „verrückt“ – und ein bisschen Stanley Kubrick-mäßig: Wo das Bild im Moment hängt, sieht es aus wie hingebeamt, das gefällt mir sehr. Es wirkt, als habe jemand die Koordinaten für ein nicht näher bestimmtes goldenes Zeitalter eingegeben und sei mitten im Goldenen Zeitalter der Niederlande gelandet. Ich mag die Gegenüberstellung mit den Gemälden der Niederländer rundherum. Obwohl es ursprünglich nicht dorthin zu gehören scheint, funktioniert es doch. Natürlich symbolisiert der Rahmen einen Tempel, bezieht sich also auf religiöse Malerei. Es gibt auch ein technisches Problem. Gold täuschend echt zu malen ist nämlich ausgesprochen schwer. Es sollte so aussehen, als ob es direkt vom Himmel käme. Es sollte so rein und gelb wie irgend möglich sein. Das hat mich so viel Zeit gekostet. Die graue Färbung des Rahmens hilft dabei, das Gold hervorzuheben und es noch goldener wirken zu lassen.

BL: Durch den Kontrast.

MA: Genau. Es sind auch alle möglichen Probleme damit verbunden, dass es ein rundes Gemälde ist. Ich war der Meinung, dass ein runder Rahmen nicht wirken würde. Der Rahmen hat sich also aus den Notwendigkeiten heraus organisch entwickelt, meiner Meinung nach eine gute Sache. Er basiert auf einem griechischen Tempel. Es gab immer goldene Gegenstände im hinteren Teil dieser Tempel. Und wenn die Sonne von vorne hineinschien, hat sie diese Gegenstände zum Strahlen gebracht.

BL: Die Italiener nennen solche Art Rahmen Ädikulen. Das heißt, es ist wie ein Eingang in einen Tempel oder eine Kirche.

MA: Das ist ja wirklich interessant.

BL: Es ist sehr spannend, sich beispielsweise italienische Renaissance-Kirchen anzuschauen. Man sieht die Fassade und den Haupteingang. Der Eingang ist also von einer besonderen Architektur umrahmt. Wenn man nun die Kirche betritt, stellt man fest, dass es innen ähnlich aussieht. Die gleiche Architektur bildet den Rahmen für die Altargemälde.

MA: Ja. Wenn ich das Gemälde jemals in der Tate Gallery ausstellen kann – die Tate Britain hat eine diesem Rahmen sehr verwandte Fassade. Wenn man dann hineinginge, würde sich diese auf der hinteren Wand widerspiegeln. Es wäre ziemlich witzig, diesen Rahmen dort zu zeigen – Ihrem Gedanken ganz ähnlich.

BL: Man sieht noch eine andere Tradition in Ihrem Werk: golden zu malen ohne Gold zu verwenden. Wenn Maler z.B. im Mittelalter goldene Gegenstände darstellen wollten, haben sie auch Gold dazu benutzt. Aber Mitte des 15. Jahrhunderts begannen die Niederländer, goldene Gegenstände mit Farben zu malen, ohne Gold. Nehmen Sie Jan van Eyck: von ihm besitzen wir das wunderschöne kleine Bild Madonna in der Kirche. Die Krone, die sie auf dem Kopf trägt, ist so wunderbar golden, aber es ist kein Gold auf dem Bild, es ist nur gemalt. Sie arbeiten also in der gleichen Tradition.

MA: In meinem Bemühen, Illusionen zu schaffen, habe ich Jan van Eyck stets im Blick gehabt. Was er gemacht hat, waren Illusionen. Deshalb habe ich viele seiner Bilder angeschaut, das Gold ist absolut unglaublich. Auf dem Genter Altar befindet sich zu Füßen des Allmächtigen eine goldene Krone, unfassbar. Seine Gemälde betrachte ich zwar seit Jahren, aber ich habe es noch nicht wirklich geschafft, irgendeine Antwort zu erhalten. Es scheint, als seien ihre Geheimnisse in den Bildern verschlossen. Und ich habe mich oft gefragt, ob die Krone, wenn man sie ausschneiden und vor eine Wand legen würde, immer noch wie Gold aussähe. Vermutlich nicht. Da realisierte ich den Zusammenhang dieser Operation. Verstehen Sie, ich brauchte einen Kontext und das half mir wirklich sehr für den Aspekt der Täuschung in meinem Gemälde.

Ich hatte mir auch viel Gold im British Museum angeschaut. Das war ziemlich lohnend, denn man hat dort diese wunderbar „buttrige“ Textur, das wirklich sehr gelbe reine Gold von sehr altem Gold. Im Jahr 2002 habe ich mein Bild Eden Grown Old in einer Ausstellung in der Royal Academy in London gezeigt, das ging irgendwie in Richtung dieses Goldtons. Als ich dieses Projekt damals startete, war das Ziel, eher eine goldene Aura zu malen. Ich habe noch nicht einmal versucht, das Gold selbst zu malen. Meine Absicht war, diesen schimmrigen Glanz zu erzeugen. Diese frühen Versionen, die Victory Series, waren 2005 in London ausgestellt, sehr ätherisch. Aber das erwies sich letztlich als unbefriedigend für mich. Ich stellte fest, was ich wirklich wollte, war diese „buttrige“ völlige Illusion. Sehr merkwürdig, wenn ich heute zurückschaue, stelle ich fest, dass ich völlige Illusion mit unbedingtem Glauben gleichgesetzt habe.

Zurückkommend auf die Idee des Trompe-L’oeil habe ich mich auch an einige der großartigen Deckengemälde erinnert, beispielsweise von Correggio, war das in Parma?

BL: Ja, in Parma gibt es die wunderbare Kuppel in der Kathedrale mit der Aufnahme Marias in den Himmel.

MA: Das ist wirklich ein Wunder. Und eigentlich ist es das, was ich machen wollte. Eine Art Wunder. Diese Arbeiten sind unglaublich, in gewissem Sinne wie virtuelle Realität. Man schaut nach oben – und dort wurde eine virtuelle Welt erschaffen. Und das wollt ich ebenfalls: einen virtuellen Raum, wo die Illusion nahezu im Raum aufgeht. Im einen Moment ist man sich bewusst, dass es eine Täuschung ist, aber im nächsten Moment sieht es vollkommen real aus.

Abbildung Correggio

BL: Genau. Das ist die Hauptidee der barocken Deckengemälde. Correggio war sehr früh, im 16. Jahrhundert. In der Kirche Sant’Ignazio in Rom gibt es noch die wunderbare Decke von Andrea Pozzo: Man muss sich genau in die Mitte des Kirchenschiffs begeben, nur von dort wirkt die Täuschung perfekt.

MA: Das gefällt mir sehr, zeigt doch mein Gemälde das Schwanken zwischen inneren Ängsten und Stärke. Und ob es möglich ist, überhaupt an irgendetwas zu glauben, an sich selbst oder an Gott. Für mich ist die Art dieser Illusionen wirklich grandios. Gerade hat man sie wahrgenommen, verschwinden sie im nächsten Moment schon wieder. Das ist sehr ähnlich wie die Natur des Glaubens selbst. Man kann sich nicht die ganze Zeit daran festklammern. Deshalb zog mich schon sehr früh das illusionistische Element dieser Arbeit an. Ich verstand, dass das wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, um das Schwanken zwischen Gelingen und Scheitern hinzubekommen. Denn Scheitern ist immer auch ein Teil der Arbeit. Ich glaube, ich habe in meiner Anfrage geschrieben, dass ich zweimal darüber nachgedacht habe, ob ich wirklich sagen soll, dass das Bild im einen Moment Gelingen, im nächsten Scheitern ausdrückt. Aber das ist das eigentliche Thema, es geht um dieses Schwanken.

Ein Bild, das schon sehr früh meine Aufmerksamkeit erregt hat, so als ich acht oder neun Jahre alt war, ist Rembrandts Mann mit dem Goldhelm. Leider ist es ja vermutlich doch kein Rembrandt. Wie ist denn der aktuelle Stand?

BL: Nein, der Maler ist unbekannt. Vermutlich hat er ein paar Monate oder sogar Jahre in Rembrandts Atelier gearbeitet. Das Bild stammt also aus Rembrandts Umkreis. Man muss wissen, dass reiche Amsterdamer Familien ihre Söhne zu Rembrandt schickten, damit sie dort malen lernten. Und später wurden sie dann Kapitäne oder Kaufleute oder was auch immer. Das ist sehr ähnlich wie in England, wo junge Männer Aquarelltechnik erlernen, wie beispielsweise Prinz Charles. Offenbar erlernten junge Leute in Amsterdam Malerei und wechselten dann später in andere Berufe. Man sieht, dass das Gemälde ziemlich andersartig ist. Der Helm hat ein sehr lebendiges Relief, aber das Gesicht ist ziemlich flach. Das Helmrelief ist eine exakte Kopie eines echten Helms. Rembrandt hätte so nicht gearbeitet. Er hätte mit seinem Pinsel die Illusion eines Helms geschaffen. Aber dieser Mann hat nur das Relief eines Helms abgemalt.

MA: Es wirkt beinahe, als habe er einen Abguss genommen, diesen mit Farbe gefüllt und anschließend einfach mit Farbe lasiert.

BL: So ist es. Vielleicht ist es ein Abguss…

MA: Hochinteressant. Aber als Jugendlicher schien es mir ein sehr besonderes Bild zu sein.

BL: Es war ein sehr bedeutendes Gemälde in Deutschland. Bode kaufte es – ich glaube in England – und es hatte sich in einer Schweizer Sammlung befunden. Es war schon früher auf dem Markt, Bode hatte auch eine Fotografie, aber er war nicht interessiert. Aber als er es dann in London sah und es kaufte, war er überzeugt, dass es ein Rembrandt sei und dessen Bruder Adrian zeige. Heute wissen wir, dass beide Vermutungen Unsinn sind. Es ist weder von Rembrandt noch zeigt es dessen Bruder. Es ist ein Mann, die Niederländer haben dafür einen bestimmten Ausdruck: „Tronie“. Es ist einfach eine Studie eines Gesichts. Aber dieses Gemälde passte perfekt zu der Vorstellung, die die Deutschen im frühen 20. Jahrhundert von Rembrandt hatten.

MA: Ja, das wollte ich gerade sagen. Ich meine, es wirkt auf jeden, der Mann mit dem Goldhelm. In gewisser Hinsicht war es vermutlich auch sehr einflussreich. Offenkundig war es mir sehr wichtig, die Illusion realistischen Golds zu schaffen. Und das kam sicherlich von der Begeisterung über dieses Bild. Deshalb ist es ganz schön, dass sich dieses Gemälde auch hier befindet.

BL: Aber dazu muss Ihnen etwas erzählen: Als ich zum ersten Mal nach Berlin kam, das war in den 70ern und ich arbeitete an meiner Dissertation über Bildhauerei des 18. Jahrhunderts, traf ich mich mit einem Kollegen in der Skulpturensammlung. Als ich fertig war, hatte ich noch ein paar Stunden Zeit und ging in die Gemäldegalerie, nur um den Mann mit dem Goldhelm zu sehen. Und als ich diesem Gemälde gegenüberstand… passierte nichts. Also hatte ich ein Problem. Ich dachte, entweder ist das Gemälde etwas problematisch oder ich bin nicht der richtige Mann für die Kunstgeschichte. Und so war ich sehr glücklich, als mein Vorgänger einige Jahre später herausfand, dass das Bild nicht von Rembrandt ist. Sie verstehen, ich mag es nicht so sehr, aber ich kann mir vorstellen, dass es für einen Künstler sehr beeindruckend ist.

MA: Was ich noch erzählen wollte: Als ich im Jahr 2000 zum ersten Mal in die Gemäldegalerie kam und Rembrandts Jakob sah – Sie haben ja eine wundervolle Rembrandt-Sammlung – war ich ziemlich schockiert. Natürlich kannte ich Gauguins Jakobs Kampf mit dem Engel. Das ist auch ein ganz herrliches Bild. Aber entweder hatte ich es vergessen oder ich kannte den Rembrandt noch nicht, jedenfalls war ich fassungslos über die Idee, dass jemand mit einem Engel um seine Bedeutung ringt, in einem weiteren Sinn mit Gott. Man denkt immer, dass wir in unserer modernen Welt die einzigen sind, die jemals um einen tieferen Sinn gerungen haben, aber tatsächlich haben Menschen immer und in allen Jahrhunderten nach einem Sinn gesucht. Wirklich interessant ist, dass auch Rembrandt darum gerungen hat. Klar hat er eine Vielzahl biblischer Sujets dargestellt, aber ich frage mich wirklich, ob er in diesem Moment auch selber um seine Bedeutung gerungen hat. Vermutlich schon.

Abbildung Gauguin

BL: Ich kann es mir auch gut vorstellen.

MA: Die ganzen Selbstportraits von ihm. Wie gewichtig sein Blick auf sich selber war. Man kann sich denken, dass er jemand war, der um einen Sinn gerungen hat.

BL: Ja, das kann schon sein, ich verstehe. Es ist gut möglich, den Eindruck zu bekommen, dass Rembrandt psychologische Studien betreibe, wenn er Selbstportraits malt. Aber diese Portraits sind eigentlich ja nur Studien. Wenn er also unterschiedliche Versionen malt, will er nur verschiedene Emotionen ausdrücken. Sie wissen ja, dass seine Schüler diese Studien kopieren mussten, um zu lernen, Gefühle auszudrücken.

MA: Ja, ich glaube, das war mir bewusst. Ich habe in London die großartige Ausstellung „Rembrandt by himself“ besucht. Ich meine, dort wurde erwähnt, dass er sehr pragmatisch gewesen sei und sich selbst als Modell genommen habe. Aber eigentlich ist die Vergänglichkeit – wie pragmatisch man auch sein mag – also wenn man in den Spiegel schaut, das ist doch ein Schock, oder? Über die Jahre. Und so habe ich mich gefragt, ob er nicht sogar Expressionen geschaffen hat, die authentischer und vielsagender sind, als er es eigentlich wollte. Vielleicht auch nicht, denn er war ja ein Geschäftsmann. Aber war er pragmatisch?

BL: Er war pragmatischer, als wir es über viele Generationen vermutet haben. Er war das Vorbild für den modernen Künstler, den Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts. Aber heute wissen wir, dass er pragmatisch und ein Geschäftsmann war. Er hat in Amsterdam eine sehr reiche junge Frau geheiratet. Sie war die Tochter eines Kunsthändlers und als sie starb, geriet er in finanzielle Schwierigkeiten. Dann lebte er mit Hendrickje Stoffels zusammen, sie waren nicht verheiratet und sie war die Chefin. Wenn Leute kamen und Geld zurückforderten, dass sie ihm Jahre zuvor geliehen hatten, sagte er: „Entschuldigen Sie bitte, aber ich besitze gar kein Geld.“ Sie besaß es. Er war gewiss sehr pragmatisch.

MA: Nun, es ist eine große Ehre, hier auszustellen. Mein Selbstportrait blickt hervor – ganz in der Nähe von Jakob mit dem Engel ringend. Meiner Meinung nach handeln beide Werke irgendwie von Selbstverständnis oder, weiter gefasst, Identität. Für einen zeitgenössischen Künstler ist es sehr ungewöhnlich, über Gefühle zu sprechen. Aber so ist das eben.

BL: Niederländische Maler stellten viel häufiger Geschichten aus dem Alten Testament als aus dem Neuen Testament dar. Nicht weit entfernt vom Mann, der mit dem Engel ringt, hängen der Moses und Simson, der seinen Schwiegervater bedroht. Das ist auch eine interessante Angelegenheit, denn in den Kirchen der Niederlande gab es gar keine Gemälde. Genau wie in England hatten sie keine Bilder in Kirchen. Diese Art des Protestantismus‘ erlaubte das nicht. Diese Gemälde wurden also alle auf dem Kunstmarkt angeboten. Und für Rembrandt und die anderen war es deshalb sehr wichtig, immer neue Ideen zu haben, wenn sie Kunstwerke produzierten. Das ist ein sehr moderner Aspekt des Goldenen Zeitalters. Wie Sie heute auch, haben sie damals für den Kunstmarkt gearbeitet.

MA: Das ist allerdings wahr.

Dieses Gespräch fand am 16. Juni 2016 in der Gemäldegalerie statt.