Andrew Graham-Dixon
Der bestürzte Junge ist in einem Ring aus Gold gefangen. Sein Haarschopf wirkt wie eine Löwenmähne. Er dachte, er sei ein Löwe, der König seiner Welt. Er dachte, er sei der Herrscher über alles. Aber er hatte unrecht. Nun spiegelt sich Entrüstung in seinen Augen wider.
Die auf und ab wogenden Haare, die sein Gesicht umrahmen, könnten in der Tat Wellen sein. Er wirkt entsetzt, heftig um Atem ringend, wie jemand kurz vor dem Ersticken. Er könnte ein Ertrinkender sein, der zum Luft schnappen an die Oberfläche strebt oder der in unbekannte Tiefen versinkt.
Der goldene Junge hat auch Ähnlichkeit mit einem Engel: ein gesegneter Kopf, körperlos. Seine Wangen sind aufgeblasen wie die Wangen eines Engels. Aber er hat keine Engelstrompete, die er blasen könnte, keinen Platz in der himmlischen Heerschar. Er ist ein Gesicht auf einem Schild.
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Dies ist eine Geschichte über Schilde. Sie beginnt im alten Griechenland.
Hephaistos, der Gott des Feuers und der Schmiedekunst, fertigte einen Schild für Achilles, der ihn im Trojanischen Krieg schützen sollte. Homer beschreibt im 18. Gesang seiner „Ilias“, welches Kunstwerk Hephaistos schuf [in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß]:
„Auch gepriesenes Gold, und Zinn, und leuchtendes Silber; richtete dann auf dem Block den Amboß, nahm mit der Rechten drauf den gewaltigen Hammer, und nahm mit der Linken die Zange.“
„Aus fünf Schichten gedrängt war der Schild selbst; oben darauf nun bildet‘ er mancherlei Kunst mit erfindungsreichem Verstande.“
„Drauf nun schuf er die Erd‘, und das wogende Meer, und den Himmel, auch den vollen Mond, und die rastlos laufende Sonn; drauf auch alle Gestirne, die rings den Himmel umleuchten,…“
„Weiter schuf er darauf ein Brachfeld, locker und fruchtbar, b[e]reit, zum Dritten [mal] gepflügt;“
„Drauf auch ein Rebengefilde, von schwellendem Weine belastet, bildet‘ er schön aus Gold;“
„Einen Reigen auch schlang der hinkende Feuerbeherrscher, jenem gleich, wie vordem in der weitbewohnten Knossos Dädalos künstlich ersann der lockigen Ariadne.“
„Auch die Gewalt des Stromes Okeanos bildet‘ er ringsum strömend am äußersten Rand des schönvollendeten Schildes.“
Männer und Frauen warben auf dem Schild des Achilles umeinander. Kühne Krieger kämpften miteinander auf dem fünflagigen fein geschmiedeten Metall. Unschuldige Hirten hüteten ihre Herden und musizierten, nur um plötzlich von Soldaten überwältigt und getötet zu werden. Das Schild war ein Abbild des Weltgeschehens, ein Amalgam von Schönheit, Liebe und Tod.
Achilles war fast unsterblich. Als er ein Kind war, hatte seine Mutter Thetis ihn in die Wasser des Styx, den Fluss der Unterwelt, getaucht. Auf diese Weise wurde sein ganzer Körper unverwundbar, außer an der Ferse, an der sie ihn festhielt. Er starb, als er von einem Pfeil des Paris tödlich an der Ferse getroffen wurde. Der Schild des Achilles war überwältigend, aber er konnte ihn nicht vor dem ihm bestimmten Tode bewahren.
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Wie könnte wohl ein moderner Schild des Achilles aussehen? W. H. Auden ließ sich 1953 von der Legende dieses Schilds zu einem Gedicht inspirieren. Er dachte dabei nicht nur an Homer, sondern hatte auch die Schrecken des 2. Weltkriegs im Sinn. In Audens Version des griechischen Mythos ist Homers Welt so stark verdunkelt, so verseucht von neuzeitlichen Gräueltaten, dass Hephaistos keine schönen Bilder mehr schaffen kann. Der moderne Soldat, dieser neue Achilles, gefühllos und grausam, ist unfähig zu lieben und unempfänglich für Licht und Anmut. Die Bilder auf seinem Schild spiegeln seine moralische Leere und die Ödnis seiner Welt. In seinem Gedicht beschreibt Auden sich Achilles‘ Mutter Thetis, die Hephaistos bei der Arbeit am Schild beobachtet:
„Sie schaute über seine Schulter suchte Athleten bei ihren Spielen, Männer und Frauen beim Tanz ihre lieblichen Glieder bewegend schnell, schnell zur Musik, aber dort auf dem glänzenden Schild hatten seine Hände keinen Tanzboden gebildet sondern ein mit Unkraut überwuchertes Feld.
Ein zerlumptes Schmuddelkind, ziellos und allein, trödelte durch diese Leere, ein Vogel flog auf, um sich in Sicherheit zu bringen vor seinem gut gezielten Steinwurf: Diese Mädchen werden geschändet, jene beiden Jungen stechen auf einen dritten ein, solcherart waren seine Ideen, der nie gehört hatte von einer Welt, in der Versprechen gehalten werden, oder jemand mitleidet, wenn sein Gegenüber weint.
Der schmallippige Waffenschmied Hephaistos hinkte fort, Thetis mit den großen Brüsten schrie auf vor Entsetzen über das, was der Gott geschaffen hatte, um ihren Sohn zu erfreuen, den starken Menschen mordenden Achilles mit dem Herz aus Eisen, der nicht lang leben würde.“
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Während der Renaissance war ein wunderbar geschmiedeter Schild eines der wirkungsvollsten Machtsymbole eines Herrschers. In den 40er und 50er Jahren des 16. Jahrhunderts wetteiferten Hofschmiede in ganz Europa miteinander in der Anfertigung besonders prachtvoller Schilde für den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. Diese Schilde hatten keinen praktischen Nutzen in der Schlacht, waren sie hierfür doch viel zu schwer und zu verziert. Sie waren reine Ausstellungsobjekte, stellten Pracht und Prunk zur Schau und konnten sogar die Illusion einer Allmacht hervorrufen. Sie markieren den Punkt in der westlichen Zivilisationsgeschichte, an dem die einstige Schutzwaffe zum Kunstwerk mutierte.
Ein schönes Beispiel hierfür befindet sich im Metropolitan Museum of Art in New York. Mailändische Waffenschmiede fertigten es um 1555 für Karl V. im Gedenken an die Schlacht von Mühlberg an, inder der Kaiser seinen Erzrivalen, den Kurfürst von Sachsen, besiegt hatte. Der dargestellte Moment der Kapitulation nimmt im verschachtelten Relief den meisten Platz ein. Der Kaiser und seine Generäle demonstrieren hoch zu Rosse ihre Überlegenheit, während sich der besiegte Gegner unterwirft. Die dargestellte Kriegsszene ist von einer schönen Naturszenerie mit mächtigen Eichen umgeben. Entfernte Hügelketten bilden einen zerklüfteten Horizont. Der Schild ist in gewisser Weise auch eine Landkarte, die das neu eroberte Territorium vorstellt.